1. Oktober: China feiert Geburtstag

Sonntagnachmittag, 30. September in Shanghai. In der Stadt ist es heiss – wie immer, die Luftfeuchtigkeit ist erdrückend – wie immer, auf den Strassen herrscht eine hektische Betriebsamkeit – wie immer und die Sonne scheint – wie fast immer. Und doch ist etwas irgendwie anders. Es ist ein Art Spannung die sich aufbaut, eine Unruhe, eine Nervosität die langsam spürbar wird. Morgen ist der 1. Oktober, das ist der chinesische Nationalfeiertag, danach haben alle Chinesen eine Woche lang Ferien. Das ist eine der beiden «Golden Week», die andere ist nach dem 1. Mai. Dieses Jahr fällt der 1. Oktober auf einen Montag und das bedeutet übers Wochenende zwei Extra-Feiertage zusätzlich. Ganz China reist für diese Woche in die Ferien, quer durchs Land, und das sind mehrere 100 Millionen-Menschen unterwegs irgendwo zwischen Beijing und Hongkong, zwischen Tibet und der Inneren Mongolei. Zurück nach Shanghai, es ist kurz vor 18 Uhr. An der Strassenkreuzung bei der Promenadenmeile «Bund» marschiert Militär und Polizei auf. Gleichzeitig kommen auch immer mehr Händler mit ihren rollenden Verkaufsständen angefahren. Der sonst dichte Autoverkehr wird immer ruhiger. Jetzt wird wohl ein Staatsempfang kommen, denken wir, fragen nach bei Chinesischen Familien die dem Treiben ebenfalls zuschauen, aber niemand weiss Bescheid. Da, genau 18 Uhr. Ein Polizist stoppt den Verkehr, lenkt die noch wenigen Autos auf eine Nebenstrasse. Wie auf Kommando stürzen sich tausende Chinesinnen und Chinesen auf die Strasse, spazieren den "Bund" hinauf und hinunter, lachen, treffen sich in Gruppen und fotografieren. An den Strassenrändern und auch in der Strassenmitte haben sich Verkaufsstände aufgereiht. Es gibt China-Fähnchen, Sonnenbrillen, Bambusflöten, mobile Gewichtswaagen, Plüschtiere, Schmuck und einfach alles was irgendwie leuchtet und blinkt. Dazwischen ein Essenstand neben dem anderen: Fisch- und Fleischspiesschen, Mais, Tintenfische, Früchte und auch mal Zuckerwatte. Innerhalb von wenigen Minuten haben die Menschen die Strassen voll in Besitz genommen. Wo vor einer Stunden wegen des dichten Verkehr kein Durchkommen war, gibt es auch jetzt kein Durchkommen, dieses mal aber wegen den Menschenmassen.
Eigentlich ist der 1. Oktober ein Strassenfest wie überall auf der Welt – und doch ist etwas anders – etwas fehlt. Auf den Strassen in Shanghai wird kein Alkohol verkauft. Die Leute trinken Wasser, Cola und vielleicht auch mal Tee aus ihren mitgebrachten Flaschen. Die Stimmung ist fröhlich, turbulent, aber nie aggressiv oder gar bösartig. Die Leute – es werden wohl mehrere Hunderttausend sein – sind dauernd in Bewegung, von Ost nach West, von Nord nach Süd. Nur direkt am «Bund» mit Sicht auf den Pearl-Tower, das Wahrzeichen von Shanghai, gibt es Rückstau: Hier stehen die mobilen Fotografen, verleihen Stative oder drucken die Bilder auf ihren portablen Tintenstrahldruckern. Die Polizei und das Militär hält sich zurück. Sie stehen an den Strassenrändern und bei den Einfallstrassen – es macht den Eindruck dass sie den ganzen Trubel auch aus Distanz «im Griff» haben. Dazwischen stehen einzelne Wagen mit Überwachungskameras davor sitzen Polizisten in ihre Liegestühlen und schauen zu. Nach zwei Stunden gehen wir zurück ins Hotel, hoffen vom Fenster aus vielleicht das Feuerwerk zu sehen. Aber es wird keines abgebrannt – vielleicht morgen sagen uns einige Leute.
Montagabend, 1. Oktober. Das ganze Szenario wiederholt sich wie am Vortag. Um 18 Uhr verschwinden die Autos und die Leute strömen auf die Strassen von Shanghai. Nur wo sind heute die fliegenden Händler, wo sind die Essenstände. heute hat es nur Menschenmassen und noch mehr als gestern. Die Händler werden von der Polizei an die Seitenstrassen vertrieben. Das geht schnell. Chinesische Händler sind im im wahrsten Sinn der Worte mobil. Die Wagen mit den bruzzelnden Spiesschen sind null-komma-nichts einen Strassenzug weiter. Der Duft von Fleisch, Fisch und Mais ist sowieso weit genug zu riechen. Das Feuerwerk wird zwischen 20 und 21 Uhr abgebrannt sagt uns ein italienischer Pizzeria-Besitzer. Wir warten an strategisch günstiger Stelle – aber auch heute ist nichts.
Dienstagabend, 2. Oktober, 18 Uhr: Noch einmal das gleiche wie die beiden letzten Tage. Die Strassen werden gesperrt, die Händler kommen und die Menschen flanieren quer durch Shanghai. Nur es hat spürbar weniger Menschen und knapp zwei Stunden später ist der Spuk vorbei. Die Polizei gibt die Strassen für die Autos wieder frei, wir hören das gewohnte Hupen und quietschen der Bremsen. China ist ein Jahr älter geworden – dieses Jahr halt ohne Feuerwerk.

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suroflo
 

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